Irmela Kästner zu Melancholia
„What would you do for...?“ Auf die Frage folgt eine Auflistung von Wünschen, Begierden, Sehnsüchten, mit der Black Cracker in einer rhythmischen Flut von eindringlich gesprochenen Versen Josep Caballero Garcías jüngstes Stück „Melancholía“ einleitet.
Was würdest Du tun? Als queere Praxis bezeichnet Josep Caballero García seine Arbeitsweise. Queerpraxis hat er auch seine Kompanie getauft. Und damit unmissverständlich deutlich gemacht, worum es ihm geht: nämlich um das Tun, um die Aktion. Bezogen auf die choreografische Arbeit von García mag man durchaus von interdisziplinärer Kulturarbeit sprechen. Die Betonung liegt, wie gesagt, auf Arbeit. Auf Aktion, die über Grenzen geht. Dafür rackern sich die Protagonistinnen buchstäblich ab. Auf ausgelegten Matten ringen sie miteinander oder besser umeinander. Denn es geht immer auch um die eigenen Positionen in der Kunst, in der Kultur und der Gesellschaft. Genderfragen sind für García und seine Protagonistinnen selbstverständlicher Teil davon.
In „Melancholía“ trifft zeitgenössisches Musiktheater auf Barockoper, Slam Poetry auf klassischen Gesang. Der Tanz ist durchsetzt mit Kampfkunst und höfischem Reigen. An der Bühnenperformance nehmen alle teil, auch der Choreograf. Die Interdisziplinarität findet in den Körper statt. Vor dem Hintergrund von Georg Friedrich Händels sogenannter Heldenoper „Giulio Cesare in Egitto“ verhandelt García den ständigen Kreislauf von Machtstreben und Gewalt, von Unterwerfung und Begehren, auf den sich nicht zuletzt die Zuschreibungen von Geschlechterrollen gründen – und versucht ihn aufzulösen.
Im Halbdunkel, erhöht auf einem Podest oder einem Bett, sehen wir zwei Paar Beine sich ineinander verhaken. Kampf oder Liebesspiel der anfangs im Dunkeln verborgenen Personen? Musik setzt ein, Gesang stimmt an. Alexandra Holtschs elektronische Klänge reiben sich an Hubert Wilds Countertenorstimme. Lea Martini und Sheena McGrandles, nun im Scheinwerferlicht sichtbar, tragen die Schichten des Podests ab, setzen die einzelnen Matten zu einer Aktionsfläche am Boden zusammen. Kniend umschlingen sie sich mit den Armen, ziehen sich gegenseitig die Beine weg, stehen auf, gehen auseinander, ohne dass Sieg oder Niederlage auszumachen wären. Die Matten werden an eine andere Stelle geschoben. Der Tänzer Enis Turan tritt zu einer der beiden Tänzerinnen. Frau gegen Frau, Mann gegen Frau. Das Geschlecht macht in der Begegnung keinen Unterschied. Jeder neue Kampf, jede neue Umarmung markiert auf der Bühne einen neuen Ort, bringt neue Griffe und Würfe hervor. Mal erscheint es wie eine Übung, als gelte es, die Regeln zu prüfen, begleitet von einem kurzen Aufatmen, Abstand nehmen, um das Gegenüber aus der Distanz zu betrachten. Nicht immer handelt es sich um einen fairen Zweikampf. Erniedrigung und sexuell konnotierte Übergriffigkeit werden angedeutet. Oder ist es ein Spiel?
Gesellschaftliche Konvention spiegelt sich im Tanz: Alle formieren sich in Reihe, dann zum Kreis, schauen sich in die Augen. Ihre Hände beginnen ein zärtliches Spiel im Fassen und Umgreifen. Die kleinen Dinge, ein Blick, ein Lächeln, machen den Unterschied. Die vorgegebene Form birgt in sich Zärtlichkeit und Erotik. Die eigentliche Kunst aber liegt darin, das konventionelle tänzerische Schrittmaterial immer wieder ganz selbstverständlich aufzulösen und in einfache Aktionen von anfassen, greifen, halten zurückzuführen.
Versteckt unter langhaarigen Perücken verwandeln sich die Protagonistinnen in gesichtslose Wesen. Der kraftvolle Tanz der Körper verlagert sich in das schwerelose Schweben von amorphen silberhäutigen luftgefüllten Gebilden im schwarzen leeren Raum. In der Überwindung von Grenzen und Widerständen schwingt immer auch der Verlust mit, ein Hauch von Melancholie, eine schmerzvolle Erinnerung. Die Kastraten in der Heldinnenrolle der barocken Oper dienen García als Referenz zu überkommenen konventionellen Rollenzuschreibungen und Beziehungskonstrukten. Man verehrte sie und schmähte sie zugleich. Derartige geschichtliche und kulturelle Widersprüche aufzugreifen, interessiert den Choreografen. Um seinerseits Projektionsflächen zu schaffen. Das gelingt ihm in einnehmend poetischer Weise.
Aller neuer Möglichkeiten zum Trotz, weiß García, dass die Auflösung und Neuordnung von Zuschreibungen, psychologisch betrachtet, für das Individuum Gewinn und Verlust zugleich bedeuten. Selbst siegreiche Krieger beweinen ihren Schmerz. In diesen Zwiespalt fühlt Josep Caballero García hinein. Sein genauer Blick sucht die kleinen Verschiebungen, die subtilen Auslotungen von Bewegung, die er in beeindruckender Konsequenz durchdekliniert. Wann wird der Kampf zum Tanz und umgekehrt? Wann kippt die Balance in einer Begegnung. Seine Kunst ertastet den Sinn der Worte, den Ausdruck der Stimme, misstraut aber erstmal offenkundigen Gefühlen. In einem Interview mit der Autorin hat er mal gesagt: „Ich mag keinen Dogmatismus.“ Und doch habe er das Dogma gesucht, als er sich für das Studium an der Folkwang Schule und damit für die bedingungslose Verbindung von Bewegung und Gefühl entschied. Um das Dogma zu erforschen und letztlich um damit zu brechen.
Pop und Hochkultur liegen bei ihm weder im Clinch noch stehen sie nebeneinander sondern gehen auf unterschiedlichen Ebenen eine Synthese ein. Ganz selbstverständlich dichtet Slam Poet Black Cracker das rachsüchtige Opernlibretto um Cäsar und Kleopatra im antiken Ägypten in eine Netflix-Serie auf Ibiza zwischen Airbnb-Studio und BDSM-Club um. Vor allem überzeugen die musikalischen Begegnungen zwischen Alexandra Holtsch und Hubert Wild.
Was würdest Du tun? Die Wiederholung treibt García um. Ein Stilmittel, das er bei Pina Bausch gelernt hat. Hier führt der Choreograf einen Gedanken von Judith Butler an: „Die Pflicht, im eigenen Verhalten die Gewalt der eigenen Subjektbildung nicht zu wiederholen, ist möglicherweise umso drängender und wichtiger, als wir eben durch Gewalt geformt worden sind.“
Der Zugang zu den tieferen Schichten unseres Daseins ist immer ein Stück Trauerarbeit. Insofern kann man MELANCHOLIA als ein Schlüsselwerk betrachten in der künstlerischen Arbeit von Josep Caballero Gracía. Am Ende steht er selbst oben auf dem Podest aus gestapelten Matten, ein kriegerischer Federschmuck krönt sein Haupt. Seine Mitstreiter*innen zerren an den Matten, reißen ihm buchstäblich den Grund unter den Füßen weg. Er klatscht in die Hände, schlägt und stampft auf den schwindenden Boden. Ein geradezu euphorischer Akt im vergeblichen Versuch, die Dinge festzuklopfen.
Irmela Kästner, Dezember 2019